
Human-Plant Studies
Begriffliche Abgrenzung
Die Human-Plant Studies (HPS) sind ein junges, aus dem englischsprachigen Raum stammendes, jedoch in Deutschland noch kaum etabliertes Forschungsfeld. Es handelt sich um ein interdisziplinäres, schnell wachsendes Forschungsgebiet, das die neuen Erkenntnisse der Botanik und der Philosophie über Pflanzen, sowie die bisher wenig ergründete Intelligenz der Pflanzen in die eigene Theoriebildung und methodischen Ausrichtungen mit einbezieht. Ein Ziel der Human-Plant Studies ist die Ermittlung von Wegen, mit deren Hilfe die Beziehung zwischen Pflanzen und Menschen innovativ ergründet werden kann (vgl. Ryan, 112).
Problematisch ist die noch nicht scharf umrissene Abgrenzung zu dem im Deutschland eher kulturwissenschaftlich geprägten Ecocriticism, mit welchem sich die Human-Plant Studies ihre theoretischen Grundlagen teilen (vgl. Stobbe, 92). Während der Ecocriticism literarische Texte unter dem Gesichtspunkt der Ökologie betrachtet und Analysen der „Konzepte und Repräsentationen der Natur, wie sie sich in verschiedenen historischen Momenten in bestimmten Kulturgemeinschaften entwickelt haben“ (Nünning, 155) betreibt, zielen die Human-Plant Studies explizit auf die Entschlüsselung der multidimensionalen Verflechtungen der Menschen mit den Pflanzen ab. Andere verwandte Disziplinen sind u. a. die Critical Plant Studies und die Literary Plant Studies.
Letztere befassen sich mit den „Imaginations- und Darstellungsformen des Vegetabilen in Kunst und Literatur“ (Stobbe, 95), indem sie die Art und Weise untersuchen, mit dem Pflanzenwissen „in literarischen und nicht-literarischen Texten repräsentiert, modifiziert und reflektiert wird“ (Stobbe, 95). Die Critical Plant Studies hingegen wollen das bislang in sämtlichen Disziplinen sträflich missachtete vegetative Leben kritisch und präzise betrachten und ins Bewusstsein der Menschen befördern. Dazu soll eine Art Kreuzung oder gegenseitige Fremdbestäubung („cross-pollination“ (Marder)) zwischen den Disziplinen Literatur und Philosophie erfolgen. Literarische Werke, darunter vor allem die zur Beschreibung von Pflanzen genutzte Bildsprache, sollen unter Zuhilfenahme der Philosophie als Bezugssystem analysiert werden. Gleichzeitig soll das Handwerkzeug der Literaturkritik herangezogen werden, um philosophische Diskussionen über das pflanzliche Leben zu bereichern.
Auratisierung vs. Vernichtung


Die zunehmende internationale Etablierung der Human-Plant Studies und damit die Entstehung einer neuen Kultur ist gesellschaftlich und ökologisch begründet. In besonderem Maße hat hierzu die seit den 1960er Jahren aufkeimende Umweltbewegung des späten 20. Jahrhunderts beigetragen, die jedoch schwerpunktmäßig von den Vereinigten Staaten und den nördlichen Teilen Europas ausgeht (vgl. Castells, 122).
Auch die stetig zunehmenden ökologischen Krisen des 21. Jahrhunderts haben dazu geführt, dass ein Umdenken unserer westlichen Vorstellung von der Beziehung zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Natur stattgefunden hat (vgl. Castells, 122).
Die gesamte Menschheit, allen voran die Bevölkerung der Industriestaaten, muss ihren Einfluss auf die Natur reflektieren und Maßnahmen ergreifen, um ein weiteres Voranschreiten der zahllosen Umweltkatastrophen aufzuhalten.
Beispielhaft bildlich dargestellt sind nur einige der Herausforderungen, denen es sich zu stellen gilt:
- der Treibhauseffekt
- die stetige Vernichtung des Regenwaldes
- zunehmende Hochwasser- und Waldbrandkatastrophen
- die Verschmutzung der Ozeane




Einer fortschreitenden Vernichtung der Pflanzenwelt als Rohstofflieferanten und Nahrungs- und Energiequelle steht demnach ein gesteigertes Interesse (Auratisierung) an der pflanzlichen Welt gegenüber (vgl. Stobbe, 92), das sich nicht nur in der Forschungslandschaft abzeichnet, sondern auch in der Filmographie, der Naturlyrik sowie in der Populärliteratur. Wie bereits erwähnt, ist die Auseinandersetzung mit den Interaktionen und Beziehungen zwischen Pflanzen und Menschen in Deutschland bislang wenig etabliert, dennoch lassen sich einige namhafte deutschsprachige Autor:innen nennen, die sich in ihren Werken intensiv mit der Bedeutung von Natur und dem Umgang der Menschen mit ebenjener auseinandersetzen.
So hat beispielsweise der Förster Peter Wohlleben 2015 sein Werk Das geheime Leben der Bäume veröffentlicht, welches 2020 auch verfilmt wurde.
Auch zu nennen sind einige deutschsprachige Naturlyriker:innen wie beispielsweise Jan Wagner, Silke Scheuermann und Marion Poschmann.



Bezogen auf den englischsprachigen Kulturraum lassen sich Filme wie Avatar – Aufbruch nach Pandora, Die fantastischen Tierwesen oder die Neuauflage von Alice im Wunderland auflisten, die eine enorme Pflanzenvielfalt zeigen und die Handlungs- und Wirkmacht der Pflanzen thematisieren. Autoren wie der Amerikaner Dr. John Charles Ryan und der Italiener Emanuele Coccia u. v. m. sind ebenfalls zu nennen. Ersterer beschäftigt sich u. a. tiefgehend mit der Phytographie, sprich dem Schreiben mit und in pflanzlichem Leben, während Coccia, dessen Werke Die Wurzeln der Welt (2018) und Sinnleben (2020) in vielen Sprachen übersetzt wurden, darauf verweist, dass die seit Jahrhunderten in allen wissenschaftliche Zweigen missachteten Pflanzen im Grunde genommen die Grundlage allen Lebens darstellen.
Plant blindness
We barely notice plants, can rarely identify them and find them incomporably inert […]. Some people aren’t even sure that plants are alive!
– P. Raven, Direktor des Botanischen Gartens in Missouri
In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff plant blindness zu nennen. Trotz der enormen Bedeutsamkeit der Pflanzen für unser Leben, wurden diese bislang in jeglicher Hinsicht missachtet. Pflanzen dienten lediglich als Leinwand allen tierischen Lebens und wurden von den Menschen seit je her an den Rand des Randständigen gedrängt (vgl. Wandersee/ Schussler, 82ff.). Tieren hingegen wird bedingt durch den zoozentrischen Blickwinkel der Menschheit deutlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Diese offene Bevorzugung der Tiere spiegelt sich auch in der Entwicklung der Human-Plant Studies wider, welche erst nach und in Anlehnung an die Human-Animal Studies (HAS) entstanden sind. Ryan zufolge fungieren die HAS sogar als eine Art Vorlage für die HPS (vgl. ebd. 111). Denn sowie die Interaktionen zwischen Pflanzen und Menschen im Mittelpunkt der Human-Plant Studies stehen, so steht „die Erforschung der Schnittpunkte zwischen tierischen und menschlichen Gesellschaften“ (Kompatscher-Gulfer/ Spannring/ Schachinger, 16) im Fokus der HAS. Zudem verfolgen beide Forschungsrichtungen ähnliche Ziele. Die HAS streben danach, Tiere als gesellschaftliche Akteure, als Individuen mit Handlungsmacht oder schlicht als eigenständige Subjekte zu akzeptieren (vgl. ebd.: 23). Das Ziel der HPS ist, die Autonomie der Pflanzen und ihre Teilhabe an sozialen Praktiken anzuerkennen (vgl. Ryan, 112).
Perspektivitätsvielfalt
Verflechtungen der Pflanzen mit den Menschen ergeben sich aus einer Vielzahl von Perspektiven. So treten Menschen und Pflanzen auf allen denkbaren Ebenen miteinander in Interaktion, sei es nun beim Essen, Trinken, Wohnen, Gärtnern usw.. Dadurch ergibt sich eine Vielzahl von Forschungsansätzen, wie z. B. die Botanik, der Schutz der Artenvielfalt, die Forstwirtschaft, der Gartenbau sowie die Landschaftsarchitektur und Agrarwissenschaft. Auch die Soziologie, die Kulturwissenschaften und die Pflanzenheilkunde stellen interessante Perspektiven auf die Pflanzenwelt dar. Diese genannten Fachrichtungen sind keinesfalls mit den HPS gleichzusetzen. Vielmehr offenbaren sie uns Erkenntnisse, mit deren Hilfe wir ein größeres Verständnis für die Beschaffenheit der Beziehung zwischen Mensch und Pflanze erlangen können (vgl. ebd.: 23). Im Zentrum all jener Betrachtungswinkel darf dabei jedoch nicht die Relevanz der Pflanzen für die Menschen stehen, sondern deren Autonomität, Agentivität und ihr Beitrag zu sozialen und kulturellen Praktiken.
Ziele und Entwicklungen der Human-Plant Studies
Ziel der Human-Plant Studies ist ein Dialog, in welchem die Menschheit die pflanzliche Welt, die immerhin 99% der Biomasse der Welt stellt, aufmerksam betrachten und diese als unverzichtbar begreifen soll. Die Human-Plant Studies sollen dazu beitragen, den Anthropozentrismus zu überwinden, die Bedeutsamkeit der Pflanzen ins Bewusstsein der Menschheit zu rufen und die Verflechtungen der Pflanzen mit den Menschen aus einer Vielzahl von Perspektiven heraus aufzuzeigen. Hierbei steht vor allem die Frage im Zentrum: Auf welche Art und Weise wir über Pflanzen denken und wie diese Denkweisen zustande kommen? (vgl. Ryan, 111-112).
Hinzu treten auch Fragen der Ethnobotanik (vgl. Artikel zur Ethnobotanik), die sich damit auseinandersetzen, was es über den Menschen aussagt, wenn diese übermäßigen Konsum von pflanzlichem Material betreibt oder den Regenwald abholzt, um z. B. mehr Anbauflächen für Monokulturen zu schaffen.
Da die Human-Plant Studies verglichen mit den Human-Animal Studies noch in den Kinderschuhen stecken, ist in Zukunft mit einer Ausdifferenzierung der Disziplinen und einer engeren Definition ebenjener zu rechnen. So existieren beispielsweise bezogen auf die HAS mittlerweile verschiedene Forschungsrichtungen, wie unter anderem die Critical Animal Studies (CAS), die jegliche Gewalt und Herrschaft gegenüber Tieren ablehnen, oder die Anthrozoology, welche sich intensiv mit der Beziehung zwischen Menschen und ihren Haustieren auseinandersetzen (vgl. Kompatscher-Gulfer/ Spannring/ Schachinger 2017: 27f.).
Literaturangaben:
Allen, William: Plant Blindness. In: BioScience 53/10, (2003), 926. DOI: https://doi.org/10.1641/0006-3568(2003)053[0926:PB]2.0.CO;2.
Castells, Manuel: Das Ergrünen des Ich: die Umweltbewegung. In: Manuel Castells (Hg.): Die Macht der Identität. Wiesbaden 2002, 121-145.
Howell, Catherine H.: Flora Mirabilis. Welche Pflanzen Schönheit, Wissen und Gesundheit schenken, übersetzt aus dem Englischen von: Silke Elzner, National Geographic, München 2021.
Kompatscher-Gulfer, Gabriela/ Spannring, Reingard/ Schachinger, Karin: Grundlagen der Human-Animal Studies. In: Dies. (Hg.): Human-Animal Studies. Eine Einführung für Studierende und Lehrende. Münster/ New York 2017, 16-30.
Marder, Michael: Critical Plant Studies. Philosophy, Literature, Culture (2013), https://brill.com/flyer/serial/CPST?print=pdf&pdfGenerator=headless_chrome (23.08.2021).
Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen –Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2013.
Ryan, John Charles: Passive Flora? Reconsidering Nature’s Agency through Human-Plant Studies (HPS). In: Societes 2/4 (2012), 101-121.
Stobbe, Urte (2019): Plant Studies: Pflanzen kulturwissenschaftlich erforschen – Grundlagen, Tendenzen, Perspektiven. In: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 4/1 (2019), 91-106.
Wandersee, James H./ Schussler. Elisabeth E.: Preventing Plant Blindness. In: The American Biology Teacher 61/2 (1999), 82, 84, 86.
Abbildungsverzeichnis:
Abbildung 1: Anika Neeb, Lizenz: CC BY-SA 4.0, Tollkirschenblüte (Atropa belladonna) im Botanischen Garten in Mainz 2021.
Abbildung 2: Anika Neeb, Lizenz: CC BY-SA 4.0, Liter(n)atur.
Abbildung 3: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0402-020 / Kluge, Wolfgang, Umweltbewegung – Wikipedia, Lizenz: CC BY-SA 3.0., Sternmarsch gegen eine Erweiterung des Tagebau Cospuden im Naturschutzgebiet, April 1990.
Abbildung 4: Ibama from Brasil, File:Operação Hymenaea, Julho-2016 (29399454651).jpg – Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY 2.0, Operação Hymenaea, Julho-2016 (29399454651).jpg.
Abbildung 5: John McColgan, Waldbrand – Wikipedia, Lizenz: Gemeinfrei, Waldbrand im Bitterroot National Forest in Montana, 6. August 2000.
Abbildung 6: Vberger~commonswiki, File:Beach in Sharm el-Naga03.jpg – Wikimedia Commons, Lizenz: Gemeinfrei, Beach in Sharm el-Naga03.jpg.
Abbildung 7: Felix Mittermeier, Buche Baum Wurzeln – Kostenloses Foto auf Pixabay, Lizenz: Pixabay License.
Abbildung 8: Heike Huslage-Koch, Marion Poschmann – Wikipedia, Lizenz: CC BY-SA 4.0, Marion Poschmann auf der Frankfurter Buchmesse 2017.
Abbildung 9: Kritzolina, Jan Wagner (Schriftsteller) – Wikipedia, Lizenz: CC BY-SA 4.0, Jan Wagner bei Fokus Lyrik in Frankfurt 2019.
Abbildung 10: Amrei-Marie, Silke Scheuermann – Wikipedia, Lizenz: CC BY-SA 4.0, Silke Scheuermann stellt auf dem Erlanger Poetenfest 2014 ihren Gedichtband „Skizze vom Gras“ vor.