
Darstellung einer seltenen Orchidee
Am 30.5.1854 wurde die Pflanze, die wir hier zu Konservierungszwecken gepresst vor uns sehen, im Frankfurter Wald von einem gewissen Herrn Metzler gesammelt. Für die Nicht-Botaniker unter uns mag dieser Fund nichts Besonderes sein, deshalb muss für sie erwähnt werden, dass dieser heute so nicht mehr möglich ist. Zwar kann man dieses Objekt noch immer in der freien Natur bewundern, seine Entdeckung gleicht aber einer Sensation. Seit 2010 ist die hier abgebildete Pflanze nämlich Teil der roten Liste gefährdeter Arten. Würde Metzler seinem Objekt heute begegnen, würde sein Pflücken oder Ausgraben mit einer Strafe belegt werden. Aber warum wurde sie im Laufe der Zeit so besonders? Was hat sich verändert?

Die Dactylorhiza sambucina, das Holunder-Knabenkraut, ist eine Pflanzenart aus der Gattung der Knabenkräuter in der Familie der Orchideen und vereint Eigenschaften beider in sich. Die ersten Vorfahren der Orchideen waren schon vor rund 80 Mio. Jahren, d.h. zu einer Zeit verbreitet, die noch von Dinosauriern geprägt war. Sie bestimmen das Bild unserer Erde also schon sehr viel länger als der Mensch, den wir, wie sich zeigen wird, als ihren Zerstörer identifizieren können. Die für die Orchidee typischen, einzigartigen Formen, Farben und Duftstoffe begründen ihre Faszination und ästhetische Wirkung auf den Menschen. Die primären Adressaten der von ihnen ausgesendeten Signale sind aber nicht wir, sondern die Bestäuber, die sich eine Belohnung von einem Blütenbesuch als Gegenleistung für die Bestäubung erhoffen. 75 % der europäischen Orchideen jedoch setzen auf Täuschungsmanöver und verweigern dem Bestäuber die Belohnung, so auch das Holunderknabenkraut.
Seine besondere Stellung unter unseren heimischen Wiesenorchideen bekommt es nicht nur durch seine Seltenheit, sondern auch durch die Tatsache, dass es sowohl rot als auch gelb blühen kann. In starken Populationen können beide Farbvarianten sogar nebeneinander wachsen. Diese Vielgestaltigkeit ist insofern außergewöhnlich, als sie sehr regelmäßig und konstant auftritt, aber scheinbar nicht ökogeografisch determiniert ist. Sowohl gelb als auch rot blühende Individuen besitzen spezifische Farbstoffe und müssen daher von scheinbar zweifärbigen Pflanzenarten abgegrenzt werden, welche durch die An- bzw. Abwesenheit von Farbstoffen differieren.

Charakteristisch für das Erscheinungsbild der 10-20cm hohen Pflanze sind die 4-7 lanzettlichen, oft länglich eiförmig ausgeprägten, stängelbegleitenden grünen Blätter, die immer ungefleckt sind und meist schräg nach oben stehen. Die untersten Blätter überragen deutlich die Blüten, welche in Farbe und Gestaltung sehr variabel sein können. Die Blüten sind in einer bis zu 15 Zentimeter langen, dichten und reichblütigen Ähre zusammengefasst. Meistens sind sie hellgelb oder hell- bis dunkelrot, die Lippenmitte ist jedoch immer mit dunkelroten Punkten versehen. Besonders schön anzusehen sind Farbvariationen zwischen gelb und rot, die aber selten vorkommen. Die seitlichen Sepalen sind zurückgeschlagen, die fast runde Lippe ist undeutlich dreilappig, und der Sporn ist meist steil abwärts gebogen. Auch wenn der Blütenduft nach Holunder hier namengebend ist, besitzen diesen nicht alle Pflanzen, oft ist er nur schwach ausgeprägt.

Anders als von vielen angenommen, ist das natürliche Vorkommen von Orchideen längst nicht beschränkt auf die tropischen Regionen der Erde. Das Verbreitungsgebiet des Holunder- Knabenkrauts umfasst fast ganz Europa, es reicht vom südlichen Skandinavien südwärts bis nach Spanien, Sizilien und zum Peloponnes, ostwärts bis nach Rumänien und in die Ukraine. Im Mittelmeergebiet aber beschränkt es sich auf die Gebirge und erstreckt sich von der Hügellandstufe bis zur alpinen Höhenstufe.
Das Vorkommen einer Pflanze mit einem so weiten Verbreitungsgebiet sollte doch eigentlich nichts Besonderes sein. Oder?
In den Alpen ist die Art zwar lokal häufig, aber streckenweise kommt sie gar nicht vor. Während sie in Österreich zerstreut anzutreffen ist, ist sie in Vorarlberg und Nordtirol bereits ausgestorben. In Deutschland liegen die Verbreitungsschwerpunkte in Thüringen, Bayern und Rheinland-Pfalz, wo sie eine botanische Rarität ist und als vom Ausstreben bedroht gilt. Noch vor 100 Jahren, also auch noch lange nach der Zeit, in der unser Objekt gepflückt wurde, war das Holunder-Knabenkraut weit verbreitet, aber seit vielen Jahren musste die Art dramatische Bestandsrückgänge hinnehmen, so dass sie inzwischen bis auf wenige Restvorkommen aus unserer industrialisierten Kulturlandschaft verschwunden ist. Aber warum?
Während echte Holunder-Arten zu den häufigsten Sträuchern in freier Natur zählen, sind die Standortanforderungen von Holunder-Knabenkraut sehr speziell. Als Orchideengewächs meidet es kalkhaltige und nährstoffreiche Böden und wählt magere, extensiv bewirtschaftete Wiesen und Weiden. Am liebsten besiedelt es mäßig saure bis schwach basische, kalkarme, meist lockere und sandig-steinige Lehmböden, die etwas humös sein sollten. Es gedeiht auf Porphyr oder Gneis. An einem solchen Standort könnte es in kleinen, lockeren Beständen vorkommen, doch leider werden ideale Standorte wie diese immer seltener. Intensive Landwirtschaft bedroht den Lebensraum des Holunder-Knabenkrauts und schränkt ihn mittlerweile soweit ein, dass es nur noch vereinzelt gedeihen kann. Die Bedrohung entsteht vor allem durch das Brachfallen und die Aufforstung unrentabler Bergwiesen und durch die Eutrophierung der Biotope durch Stickstoffeintrag aus der Luft, die zu einer Übersäuerung der ohnehin kalkarmen Böden führt. Aufgrund der frühen Blütezeit können auch Spätfröste folgenschwere Schäden verursachen. Gerade Bestände, die nur noch aus wenigen Pflanzen bestehen, können auf diese Weise unwiederbringlich verlorengehen. So stellt das Holunder-Knabenkraut nur ein Beispiel einer Pflanze dar, die vom Menschen im Laufe der Zeit ausgerottet wurde, ein Beispiel einer Familie, die kontinuierlich wächst. Zukünftige Generationen werden sich wohl nur noch an konservierten Objekten, wie dem von Metzler erfreuen können.
