Heimisch oder unheimlich – Wildnis

Wildnis ist ein nicht nur im Kontext des Umweltschutzes verwendeter Begriff, sondern auch ein in gesellschaftlichen Debatten aufgegriffenes Thema. Dabei wird Wildnis meist mit Natur gleichgesetzt und dient als Zufluchtsort aus strukturierten, geordneten Lebensräumen in eine freie und neue Perspektiven eröffnende Welt (vgl. Trepl, 22). Zugleich wird sie mit Lexemen des „Unkontrollierte[n] oder sogar Unkontrollierbare[n] – und deshalb d[es] Bedrohliche[n], Schreckliche[n],  Unberechenbare[n]“ (ebd.) versehen, die in Verbindung mit dem natürlichen Zustand der Umwelt stehen, der wiederum mit der Rohheit der Natur in Verbindung gebracht wird.

Abb. 1: Bedrohlich und zugleich befreiend.

Natur vs. Kultur

Trotz des recht eindeutigen Bildes von Wildnis als eines mutmaßlich ursprünglichem Naturzustands verbinden sich mit diesem Vorstellungsbild konträre Assoziationen: Die zivilisatorische Ordnung des Menschen steht einer vermeintlichen Unordnung der Natur gegenüber, die sich allerdings durch vorhandene Naturgesetze doch in gewisser Hinsicht als strukturiert präsentiert. Wildnis wird durch ihre Ungezähmtheit zum einen mit Gefahr, zum anderen mit totaler Freiheit verbunden (vgl. Rauh). Sie wird als fremd und zugleich als Grundzustand des Lebenden und somit als Zuhause angesehen. Immer erscheint sie allerdings als Gegensatz zu einer kultivierten Welt (vgl. ebd.)

Wildnis in der Literatur

Auch in der Literatur sind divergente Einstellungen zu ‚Wildnis‘ erkennbar. In der Antike bestand das Bild von Wildnis als leerer und einsamer Raum, welcher „als locus terribilis zum Schauplatz von Unglück und Verzweiflung“ diente (Braungart, 140). Im Gegensatz dazu steht die Bedeutung von Wildnis in der Romantik, wo sie mit positivem menschlichen Erleben in Verbindung gesetzt und in diesem Kontext auch von der Literatur aufgegriffen wird (vgl. ebd.). Zudem wird die Wirkung von Wildnis vor allem an kulturellen Überresten wie maroden Werkzeugen oder eingestürzten Mauern thematisiert, die sie zu überwuchern scheint (vgl. Burdorf). Auch in der heutigen Naturlyrik bildet Wildnis Grundlage für literarische Adaptionen, wie in Silke Scheuermanns lyrisches Werk ‚Efeu‘. In diesem Rollengedicht fallen typische Charakteristika von Wildnis auf: Die Efeupflanze, der das lyrische Ich zuzuordnen zu sein scheint,  überwuchert die Lebenden und bietet ihnen dadurch die Möglichkeit, „zu[zu]lassen, dass Seele, Treue, Überdauern mehr als Begriffe sind“ (Scheuermann, 49). Dem Efeu ist darüber hinaus eine gewisse Handlungsmacht inne, die ihn gegenüber dem Menschen erhöht und Kritik an ihm übt (Vgl. Zemanek). Dies sind Aspekte von ‚Wildnis‘, die durch Silke Scheuermanns Pflanzen-Gedichte als Novum eingeführt werden und dennoch in Verbindung zu klassischen Wildnis-Konzepten stehen.

Abb. 2: Efeu als Symbol für Wildnis

Literaturangaben:

Burdorf, Dieter: Rückkehr der Lehrdichtung? Zur Konjunktur des Naturgedichts in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik im Kontext seiner Vorgeschichte. In: IZfK 1 (2019), 285-313.
Braungart, Georg: Naturlyrik. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschicht. 2., erweiterte Auflage. Stuttgart 2011, 132-139.
Rauh, Horst Dieter: Heilige Wildnis: Naturästhetik von Hölderlin bis Beuys. München 1998.
Scheuermann, Silke: Efeu. In: Scheuermann, Silke: Skizze vom Gras. Frankfurt am Main 2014, 49.
Trepl, Ludwig; Kirchhoff, Thomas: Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene. Bielefeld 2009.
Zemanek, Evi: Durch die Blume. Das florale Rollengedicht als Medium einer biozentrischen Poetik in Silke Scheuermanns „Skizze vom Gras“. In: Zeitschrift für Germanistik 28/2 (2018), 290-309.

Abbildungsverzeichnis:

Abbildung 1: Ökologix, https://de.wikipedia.org/wiki/Wildnis#/media/Datei:Hunddalsbotnen_Norge.JPG, Lizenz: CC BY-SA 3.0, Nordland in Norwegen.
Abbildung 2: Sten, https://de.wikipedia.org/wiki/Gemeiner_Efeu#/media/Datei:Hedera-helix-aerial-roots.jpg, Lizenz: CC BY-SA 3.0, Hedera helix: Aerial roots.