
Phytographie
Phytographie, die gr. φυτόγραφή [fitɔɣrafi] ‚Pflanzen(be)schreibung‘
Ein Wort, das in der größten Online-Enzyklopädie der Welt, Wikipedia, nicht eingetragen ist – anders als die Floriographie, die Blumensprache. Ein einfaches Kompositum aus dem Plural des Substantivs Blume und dem Substantiv Sprache, die Sprache der Blumen eben. Doch wie viel haben die Blumen bei dieser tatsächlich zu sagen? Eigentlich nichts, wenn man Wikipedia glauben möchte, denn die Blumensprache ist ein „Mittel der nonverbalen zwischenmenschlichen Kommunikation“. Die Bedeutung der Rose, die in der Blumensprache für Liebe steht, ist nichts weiter als eine Zuschreibung der Menschen. Mit den der Rose inhärenten Eigenschaften hat sie nichts zu tun. Ähnlich passiv verbleiben Pflanzen oft, wenn Menschen über oder durch sie zu sprechen versuchen. Diese sogenannte Blumensprache ist geprägt vom anthropozentrischen Weltbild, das den Menschen als seine Umwelt dominierend zeichnet. Wie der Literaturwissenschaftler John Charles Ryan festhält, gelten Pflanzen in diesem Sinne als Wesen, die den Handlungen anderer menschlicher, aber auch tierlicher Akteur*innen ausgesetzt sind und nicht selbst agieren (vgl. Ryan). Doch er betont auch, dass dies, nur weil Menschen sich und alles, was ihnen irgendwie ähnelt, gerne in den Mittelpunkt rücken, noch lange nicht immer stimmt – auch nicht dann, wenn es sich um ein menschengemachtes Produkt wie Literatur handelt.
Beweise dafür liefert auch die Botanik, die zunehmend zur Wahrnehmung von Pflanzen als intelligente, dynamische, intentional agierende Lebewesen mit eigenem Subjektstatus beiträgt, indem man sich zum einen von traditionellen Konzepten, wie der Bindung von Intelligenz an das Vorhandensein eines Gehirns, trennt, zum anderen die Pflanze überhaupt auf menschlich-animalisch geglaubte Eigenschaften wie Intelligenz untersucht. Anhand der bisherigen botanischen Erkenntnisse wird Pflanzenintelligenz durch das Fehlen eines Gehirns als weniger zentralisiert und mehr auf den ganzen Pflanzenkörper verstreut charakterisiert. Bei der Entwicklung ebendieser Intelligenz spielt ausgerechnet die Immobilität der Pflanze, die meist als Inbegriff des Stillstands und der Passivität verstanden wird, eine zentrale Rolle. Durch die konkrete Bindung der Pflanzen an ihre Umwelt bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich an genau diese Umwelt anzupassen und sie selbst mitzugestalten. Diesen agentiven Vorgang nennt Patrícia Vieira (2017) inscription (dt. Inschrift). Als Inbegriff dieser inscription der Pflanzen fasst sie die Photosynthese, deren Produkt, der Sauerstoff, auch zu einer ganz ursprünglichen Art der Phytographie führt, die sie als “the specific modes in which the vegetal world is embedded in human cultural productions” (Vieira, 218) definiert. Sie definiert Phytographie als: Der von Pflanzen generierte Sauerstoff ist es, der das Leben und somit auch die inscription aller anderen Lebewesen erst ermöglicht, sodass wir in diesem Sinne alle Phytographie betreiben, indem Pflanzen unweigerlich Teil unserer inscription sind.
Das Forschungsfeld, das intensiv sich mit den Zeichensystemen und -prozessen der Pflanzen, also auch ihrer inscription im biologischen Sinne, auseinandersetzt, nennt sich Phytosemiotik. Die Kommunikationsprozesse von und zwischen Pflanzen geschehen meist auf Gewebe- oder Zellebene, sodass sie dem menschlichen Auge zunächst meist verborgen bleiben. Dennoch versucht man, diese Zeichen auch bei der Einbettung pflanzlichen Lebens in menschliche Schreibkultur in Form von literarischer Phytographie zu berücksichtigen, indem man davon ausgeht, dass die Menschen die Pflanzen nicht nur in ihr Werk einbetten, sondern die Pflanzen auch selbst auf das Werk wirken und dort ganz eigene Spuren hinterlassen. Indem Pflanzen also als agentivische Lebewesen gedacht werden, etabliert die Phytographie eine neue, biozentrische Weise des life writing als eines Schreibens, das ‚Leben‘ in seinen verschiedenen Formen und Ausprägungen in den Mittelpunkt stellt – das eigene, das eines*einer Anderen, oder eben das Leben von Pflanzen. Um dieses Leben zu (be)schreiben gilt es, die bereits erwähnte Wahrnehmung der Pflanze durch ihre Intelligenz und Agentivität, ihr Sprach- und Zeichenvermögen, sowie ihre Leibhaftigkeit als in Zeit und Raum lokalisiertes Lebewesen zu berücksichtigen. Mit der Pflanze als Teil von Zeit und Raum gehen wiederum die Temporalität und Saisonalität, mit der die Pflanze sich verändert, und die Stellung der Pflanze in ihrer Umwelt als beeinflusst, aber besonders auch als Einfluss einher. Zuletzt gilt es auch, die Mortalität einer Pflanze zu bedenken, indem ihr Tod als Ereignis von Bedeutung und Ausmaß für den Menschen verstanden wird.
Der Zyklus des Lebens und Vergehens von Pflanzen ist seit der Antike in westlichen Kulturkreisen Ausgangspunkt und Inspirationsquelle für literarische Projekte. Dabei nahm man dieses Geschenks jedoch vor allem in Form der Anthropomorphisierung an, bei der Tiere, Pflanzen oder auch unbelebte Dinge menschliche Züge erhalten. Um diese Figur vom Anthropozentrismus zu trennen, sollte sie einen Versuch des Menschen darstellen, sich in die Pflanze hineinzuversetzen und sie zu verstehen – also eine De-Anthropomorphisierung des Menschen im Zuge der Anthropomorphisierung einer Pflanze. Häufig bekommen Pflanzen dabei jedoch, ganz im Sinne der phonozentrischen menschlichen Sprache, auch eine Stimme verliehen. Gegen dieses Verständnis von Sprache spricht sich unter anderem Jaques Derrida aus, der den Gegenentwurf des arche-writing kreiert, das einen Raum für alle Formen der Sprache, auch in Form der inscription schafft. So kann Phytographie zu einer Begegnung zwischen Schreiben über Pflanzen und Schreiben von Pflanzen werden. Ryan nennt zwei verschiedene Möglichkeiten, Pflanzen aktiv in menschliche Schreibprozesse zu involvieren: Beim writing-with tritt der Mensch in den direkten Dialog mit der Pflanze, beim writing-back schreiben die Pflanzen ihr eigenes Leben, sowohl auf sensorischer als auch auf materieller Ebene, so zum Beispiel in Form von haptischen, olfaktorischen und gustatorischen Zeichen, die sie an den Menschen senden. Auf diese Weise lässt sich ein*e Autor*in auf die reale Existenz der Pflanze ein, während kulturell vorgeprägte Projektionen, die oft zu literarischen Klischees führen, kaum mehr eine Rolle spielen.