Blatt

Abb. 1: Efeu-Blätter

Der Begriff ‚Blatt‘ oder ‚Blätter‘ ist in seiner Definition breit gefächert und deckt vielerlei verschiedene Bilder und Vorstellungen ab. Viele denken zunächst an die rot und golden gefärbten Blätter der Laubbäume im Herbst oder sehen eine rosaweiße Blütenpracht vor sich, die zu Zeiten der Hanami die Straßen Japans säumt. Wiederum andere denken an Ahornblätter, Efeublätter oder auch an ein Feld von Kleeblättern – Blätter, denen im Laufe der Menschheitsgeschichte verschiedene Bedeutungen zugesprochen wurden. So stehen die Blütenblätter der japanischen Kirschblüten für Vergänglichkeit, der Efeu ist Symbol für Gift, aber auch Heilmittel und das vierblättrige Kleeblatt ist weltweit ein Zeichen des Glücks. In der Antike wurde dem Motiv des Lorbeerstrauchs ein heiliger Charakter zugesprochen und als Symbol für Ruhm und Weisheit behandelt und die Akanthusblätter wurden in der korinthischen Säulenordnung verewigt. Zugleich beherbergt der Begriff ‚Blatt‘ aber auch die Doppeldeutigkeit zum Schreibpapier, man spricht hier von einem ‚Blatt Papier‘, welches wiederum auch ein pflanzliches Produkt ist. Papier wird gemeinhin aus Holz hergestellt und auf Papier wird Poetik und Prosa festgehalten, dessen Inhalt und Inspiration in vielerlei Hinsicht aus Pflanzen und ihren Blättern speist. Das Blatt wird zur Metapher, zur Redewendung wie in ‚das Blatt wendet sich‘ oder ‚ein unbeschriebenes Blatt‘, ‚kein Blatt vor den Mund nehmen‘ und so weiter.

 

Blätter sind ebenfalls als Tee genießbar, wie zum Beispiel die Minze. Andere werden als Rauschmittel verwendet, wie im Fall des Hanfs, auch Marihuana genannt, dessen markante fünfarmige Silhouette für eine ganze gesellschaftliche Bewegung steht – zum Beispiel die Rastafari-Bewegung und weitere Subkulturen, außerdem Gruppierungen, dessen Hauptanliegen die Legalisierung von Marihuana ist. Das rote Ahornblatt ist sogar zentrales Motiv der Nationalflagge Kanadas. Solche symbolisch übercodierte Blätter sind jedoch nicht nur in westlichen bewaldeten Ländern zu finden, sondern auch in kargen, trockenen Gegenden wie in den Wüsten Namibias. Die Welwitschia besitzt allein zwei große Blätter, die eine Länge von mehreren Metern erreichen können und mit denen sie es ebenfalls zum Nationalsymbol geschafft hat, ähnlich wie das kanadische Ahornblatt. Ihre Blätter sind auf dem Staatswappen Namibias zu finden. Sie steht hier für „Ausdauer […], für das Durchhalten gegen alle äußere[n] Widerstände“ (info-namibia), während das kanadische Ahornblatt Einheit, Toleranz und Frieden symbolisiert und nur siebzehn Zacken aufweist anstatt naturgetreu dreiundzwanzig (vgl. Kegel).

 

All dies betont, wie wandelbar und vielfältig das Blatt ist und gerade in seinen diversen Formen wird es zum beliebten Motiv in der Mode, im Industriedesign, als auch in der Kunst und Literatur. Ob herzförmig, oval, länglich, geriffelt oder gezackt, groß oder klein, es regt die Schaffenskraft im Menschen an; für die Pflanze selbst hat jede Eigenheit des Blattes eine lebensnotwendige Funktion. Im biologischen Sinne sind Blätter ein Grundorgan von Sprosspflanzen, also farnartige Pflanzen und Samenpflanzen. Darunter fallen neben Bäumen und Blumen auch verschiedene Gräser und Büsche. In Form der Baumkronen bieten Blätter Schutz vor Sonne, Regen und Wind, sie sind Nahrung für Tiere, aber auch ihr Schutz vor Feinden; ihre wichtigste Aufgabe ist aber die Fotosynthese – die Verarbeitung von Kohlenstoffdioxid und Wasser zu Glucose und Sauerstoff – und die Transpiration – die Verdunstung von Wasser für die Nährstoffannahme- und Transport.

Die Anpassungsfähigkeit der Pflanzen unter verschiedenen ökologischen Voraussetzungen faszinierte bereits Johann Wolfgang von Goethe, als er sich in die Naturwissenschaften vertiefte. Dazu erschien 1790 zur Frankfurter Buchmesse seine erste naturwissenschaftliche Publikation mit dem Titel ‚Versuch die Metamorphose zu erklären‘. Er stellt die These auf: „Alles ist Blatt, und durch diese Einfachheit, wird die größte Mannigfaltigkeit möglich“ (Pörksen, 335). Goethe betrachtet die Metamorphose der Pflanze als Gestaltwandlung des Blattes – beginnend mit der Keimung über die Entwicklung der Stängelblätter bis hin zur Frucht. Solche hohe Aufmerksamkeit widmet ebenfalls der italienische Philosoph Prof. Emanuele Coccia, Ph.D. dem Blatt in seinem Werk ‚Die Wurzeln der Welt‘ in Kapitel Fünf. Coccia spricht hier von atmenden Blättern, die, er bezieht sich hierbei auf Goethe, die Rolle des Ursprungs von allem einnehmen, dadurch dass sie als Zentralorgan die Fotosynthese betreiben und allem Lebendigen das Atmen ermöglichen. Coccia fährt fort: „Auf die Blätter gründet sich nicht nur das Leben des Individuums, zu dem sie gehören, sondern auch das Leben des Reichs, dessen typischer Ausdruck sie sind: die ganze Biosphäre.“ (Coccia, 40) Das Blatt ist „[…] das Element, das das Leben ermöglicht.“ (ebd., 42), es ist „[…] nicht einfach nur der Hauptteil der Pflanze. Die Blätter sind die Pflanze: […] Die gesamte Pflanze identifiziert sich im Blatt, die anderen Organe sind lediglich seine Fortsätze. Allein das Blatt produziert die Pflanze.“ (ebd., 40) Abschließend zieht Coccia folgendes Fazit: „Das Geheimnis der Pflanzen zu begreifen heißt, die Blätter zu verstehen […]“ (ebd). Das Blatt, beziehungsweise die Pflanze, um an Goethe und Coccia anzuschließen, ist dementsprechend weit mehr als nur ein Symbol, ein Gestaltungsmotiv oder Rohstoff für den Menschen – sein immenser Einfluss auf das Klima und die Existenz aller Lebewesen stellen es auf ein Podest, bedeutungstragender als jede symbolische Codierung.

Literaturangaben
BR Wissen: Pflanzen der Wüste – Wurzelkünstler und Wasserspeicher (2019), https://www.br.de/wissen/wueste-wuestenpflanzen-kakteen-pflanzenwelt-100.html (30.07.2021).
Coccia, Emanuele: Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen. Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke. München 2018.
Goethe, Johann Wolfgang von: Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790), https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_metamorphose_1790/17 (15.08.2021)
Info-namibia: Welwitschia mirabilis (2021),https://www.info-namibia.com/de/aktivitaeten-und-sehenswuerdigkeiten/swakopmund-umgebung/welwitschia-mirabilis  (30.07.2021).
Kegel, Maike: Die Flagge von Kanada – Land zwischen zwei Ozeanen (2020), https://www.vispronet.de/blog/flaggen-der-welt-kanada/ (15.08.2021).
Korinthische Ordnung (2021), https://de.wikipedia.org/wiki/Korinthische_Ordnung (15.08. 2021).
Maul, Gisela: „Mit Botanik gibst du dich ab?“ (2020), https://blog.klassik-stiftung.de/mit-botanik-gibst-du-dich-ab/ (15.08.2021).
Pörksen, Uwe: Alles ist Blatt. In: Zur Geschichte deutscher Wissenschaftssprachen, editiert von Jürgen Schiewe (2020), 335-354. DOI: 10.1515/9783110692716-010.
Abbildungsverzeichnis:
Abbildung 1: H.Zell, https://de.wikipedia.org/wiki/Gemeiner_Efeu#/media/Datei:Hedera_helix_002.JPG, Lizenz: CC BY-SA 3.0, Hedera helix, Araliaceae, Gemeiner Efeu, Infloreszenzen; Karlsruhe, Deutschland. Die frischen, voll entwickelten, unverholzten Triebe vor oder zu Beginn der Blütezeit werden in der Homöopathie als Arzneimittel verwendet: Hedera helix (Hed.).