
Ruderalflächen
Definition
Als Ruderalflächen werden „naturnahe Lebensräume“ (Kim, 2) oder „Sekundärwildnisse“ (Schäfer), „Kulturbrachen“ (ICBM) oder „Trockenstandorte“ (Kim,1) bezeichnet. Alle Bezeichnungen weisen auf die besondere Beschaffenheit von Ruderalflächen hin, denen allen ein Rohboden – ein brachliegender und pflanzenbefreiter Boden, der Nährstoffe bietet und oft ungeschützt der Sonneneinstrahlung ausgesetzt ist (vgl. ICBM) – zugrunde liegt. Dieser Boden kann ganz unterschiedlich aussehen und an verschiedensten Orten aufgefunden werden. Im städtischen Bereich, meist in nicht oder nicht mehr von Menschen genutzten Flächen, können sie an Weg- und Straßenrändern, Bahndämmen, Hauslücken, Gartenecken oder neben Misthaufen gelegen sein (vgl. Schäfer). An weniger öffentlichen Orten wie auf brachliegenden Äckern oder stillgelegten Industrieanlagen, steinhaltigem Abbruchgelände oder auf städtischen Trümmerschuttböden oder Trümmerhalden aus dem Zweiten Weltkrieg können sich ebenfalls Ruderalflächen bilden (vgl. Willig). Durch diese oftmals ‚trümmerartige‘ Gestalt des Bodens, lässt sich die Etymologie des Begriffs nachvollziehen, da ruderal sich vom lateinischen Wort rudus ableiten lässt, was zu Deutsch ‚Klumpen‘ oder ‚Brocken‘, und im übertragenen Sinne ‚Schutt‘ oder ‚Trümmer‘ bedeutet (vgl. Schäfer). Diese ‚Trümmer-Flächen‘ entstehen nicht zuletzt auch an Hangrutschungen oder in Überschwemmungsgebieten von Flüssen, dort wo es häufig zu Erderosionen und Geröllstürzen kommt, oder sie befinden sich auf Kiesbänken und Schotterflächen von Flüssen und Gletschern (vgl. Willig).
Biodiversität
Das Milieu der Ruderalflächen ist ein Areal der Extreme: Viele im Boden vorhandene Nährstoffe, hohe Sonneneinstrahlung oder extreme Bodenfeuchtigkeit, starkes Gefälle oder starke Neigung der Fläche, mechanische Belastung durch Tritte oder das Ab- und Auftragen von Schutt, Sand o.ä. (vgl. Manderbach). Daher müssen Pflanzenarten und tierliche Bewohner:innen, die sich auf diesen Ruderalflächen ansiedeln wollen, gewisse Eigenschaften bzw. Anpassungsfähigkeiten besitzen. Das führt dazu, dass die Ruderalflora (auch Ruderalvegetation) meist aus wilden Pflanzen besteht, die Techniken und Strategien aufweisen, welche einerseits das schnelle und effektive Besiedeln von Standorten und andererseits die Erhaltung bzw. das Überleben auf eben diesen ermöglichen. Die Besiedlung kann unter anderem durch eine große Menge an flugfähigen Samen geschehen (wie z.B. bei Löwenzahn), durch unter- oder überirdische Ausläufer oder auch durch Samen, die über Jahre oder Jahrzehnte im Boden auf den richtigen Moment zum Keimen warten. Ruderalpflanzen müssen eine hohe Stresstoleranz besitzen. Schließlich sehen sie sich, zusätzlich zu den klimatischen Bedingungen durch ihre räumliche Nähe zum Menschen, Faktoren wie höherer Luftverschmutzung, höheren Durchschnittstemperaturen, sowie Staub, Abfall, Streusalz, Schwermetallen und Hundekot bzw. -urin auf den Böden ausgesetzt (vgl. BUND, 3).
Das Alter von Ruderalenvegetationen lässt sich anhand ruderaltypischer Pflanzen erkennen. Einjährige Ruderalflächen verzeichnen bestimmte Jungpflanzen – sogenannte Pionierpflanzen – unter anderem ‚einjährige Pflanzen‘, welche innerhalb eines Jahres den kompletten Lebenszyklus durchlaufen, wie zum Beispiel die Weg-Malve (Malva neglecta). Ältere Ruderalflächen entstehen, wenn eine Fläche für mehrere Jahre nicht von der Pflanzendecke befreit, bzw. wenn diese nicht mechanisch gestört wird. Kommen von Jahr zu Jahr immer mehr neue Pflanzen hinzu, können sich ausdauernde Ruderalfluren entwickeln, welche oftmals die Erstankömmlinge verdrängen (vgl. Manderbach). Sowohl die mehrjährigen Ruderalfluren als auch die einjährigen Ruderalflächen bieten Schutz, Nahrung und Nistplätze für Kleinlebewesen wie Ameisen oder Sandlaufkäfer, Reptilien bzw. wechselwarme Tiere sowie Schmetterlinge, Falter und Vögel (Kim, 2–3).
Praxis: Ruderalflächen für den Garten
Erstaunlicherweise weisen Ruderalflächen trotz ihrer vermeintlichen Kargheit oder Trümmerhaftigkeit im Vergleich zu anderen Flächen (Äckern und Grünländern) eine deutlich höhere Artenvielfalt und Artenanzahl auf geringerer Fläche auf (vgl. Schertel, 71–83). Somit kann durch den Erhalt oder das Anlegen von Ruderalflächen die regionale Biodiversität aktiv gefördert werden. Das Anrichten einer ruderalen Fläche im (Vor-)Garten oder Hinterhof gelingt sehr leicht und ist dazu um einiges lebensfreundlicher als die modernen Schottergärten. Ruderale Böden mit Kies, Sand oder Bauschutt sind in Gärten oft schon vorhanden. Daher sollten diese kleinen Rohböden sich selbst überlassen und nicht ‚gestört‘ werden. Gibt es keine solche Fläche im Garten, können diese Rohböden auch selbständig frei- bzw. angelegt werden. Hierzu muss zunächst der Oberboden ca. 20 bis 30 cm tief, je nach Bodenbeschaffenheit, abgetragen werden. Die abgetragene Schicht wird ersetzt durch kiesiges Material, welches regionaler Herkunft und ohne Vorbelastung bzw. nicht verunreinigt (durch Asbest) sein sollte. Auch dekorative Elemente wie Steinbrocken zur Strukturierung oder Totholz zur Ansiedlung von Kleintieren können eingesetzt werden (GGZ). Auf jegliche Art von Dünger und chemischen Hilfsmitteln für das Pflanzenwachstum oder Herbizide sollte verzichtet werden. Die Ansiedelung der Ruderalvegetation kann einige Zeit dauern. Wer nicht warten möchte oder wen die Ungeduld packt, kann auf regionale Ruderalpflanzen (z.B. Wiesen-Schafgabe (Achillea Millefolium)) zurückgreifen. Die Pflanzen sollten jedoch nicht gesät, sondern am besten direkt als Setzlinge eingepflanzt werden, da eine geringere Pflanzenanzahl die ökologische Qualität erhöht (vgl. Kim, 3–4). Die vielfältigen Ruderalflächen können gefährdete Wildbienen anlocken und ihnen Nistplätze verschaffen. Auch einige Küchenkräuter, wie Thymian oder wilder Majoran, können an diesen mageren Standorten gedeihen und für die häusliche Nutzung verwendet werden (GGZ). Ansonsten können größere Ruderalflächen als Ort der Entspannung, der Beobachtung und des Staunens dienen.
Ruderalflächen in der Literatur
Ruderalflächen lassen sich vor allem unter dem Aspekt der Ruderalflora oder bestimmten ruderaltypischen Pflanzenarten (z.B. Huflattich (Tussilago Farfara)) in literarischen Strömungen wie dem Magischen Realismus, der Trümmerliteratur und dem Science-Fiction-Genre bzw. grundsätzlich in Literatur wiederfinden, die Zukunftsszenarien entwirft. Ruderalflächen werden in diesen Strömungen durch ihre semantische Unbestimmtheit als eine Reflexionsfigur für die jeweilige Grundthematik verwendet (vgl. Kubin, 43–46). So gestaltet sich in der Trümmerliteratur die ruderale Vegetation als Projektionsfläche, um Vergessenes wiederzubeleben und/oder sich poetologisch Erinnerungen zu vergegenwärtigen (vgl. Kubin, 43f). Hierdurch werden die mit einem vegetabilen Symbol kognitiv verknüpften Erinnerungen wie Krieg oder Verlust (beim Lesen für die Leserschaft) abrufbar gemacht. Im Magischen Realismus hingegen wird der hybride Charakter der Ruderalflächen genutzt und/oder nachgeahmt, um diverse literarische Formen und divergierende Inhalte miteinander zu verknüpfen. So werden z.B. mystische Aspekte in reale Kontexte eingeflochten oder unterschiedliche sprachliche- bzw. kulturelle Aspekte miteinander verbunden (z.B. bei der Verwendung von Mischsprachen), um eine Vermittlung von in der Moderne verankerten und oft reproduzierten Gegensatzpaaren (wie Okzident vs. Orient oder Arm vs. Reich) zu erzeugen (vgl. Leine oder Kubdin, 43–46). Zuletzt lässt sich die Ruderalfläche als ein Nachdenken über die Darstellbarkeit einer Zukunft in futuristischen Szenarien und Science-Fiction-Erzählungen der Gegenwartsliteratur wiederfinden (vgl. Bühler, 163–168).
Ruderalflächen im Diskurs
Aktueller denn je lassen sich sowohl für die Literaturwissenschaft als auch für den praktischen Gebrauch die Ruderalflächen als ein Raum der Vermischung und des wirkungsmächtigen Austausches zwischen allen Lebewesen betrachten und nutzbar machen. Dies könnte und kann unter verschiedenen Aspekten geschehen: Auf einer literarischen Ebene. In der Behandlung prognostischer oder aktueller Themen wie einer verheerend schnellen Entwicklung, eines Fortschritts ‚um jeden Preis‘ oder vom Menschen gemachte klimatische Veränderungen, wie es schon in den 60er-/70er-Jahren Rolf Dieter Brinkmann und Nicolas Born in ihren lyrischen Texten getan haben (vgl. Fauser/ Schierbaum). Oder auf einer wissenspolitischen Ebene durch die Kenntlich- und Bewusstmachung von umweltproblematischen Zuständen, wie es unter anderem der ökokritische Forschungszweig der Literaturwissenschaft – der Ecocriticism – fördert. Oder auf einer rein subjektiv-sensoriellen Ebene durch das aktive und bewusste ‚Sich-Begeben‘ in einen dynamisch-harmonischen Moment der (Rück-)Besinnung, des Innehaltens oder der Kontemplation, in, mit und durch die, vor oder um uns liegende Ruderalfläche – sei sie auch noch so klein.