Tropismen

Pflanzen, so die landläufige Annahme, sind, in der Erde festgewachsen, bewegungsunfähig und daher im Grunde genommen ihrer Umgebung schutzlos ausgeliefert. Doch diese Annahmen entsprechen nicht ganz der Wahrheit. Trotz ihrer sessilen Lebensweise und dem Fehlen von Muskulatur sind Pflanzen durchaus dazu in der Lage, ihre Organe im Raum nach bestimmten Umwelteinflüssen auszurichten und auf induzierte Reize hin spezielle Bewegungsformen auszuführen, um sich ihrer Umwelt anzupassen (vgl. Kadereit, 448). 

Tropismen (griech. trope, „Wendung“) sind Krümmbewegungen fester Pflanzen(-organe), die durch einen Reiz bedingt und in ihrer Richtung von diesem bestimmt werden (vgl. Kadereit, 454). Wenn ein Kressesamen auf eine befeuchtete Unterlage gelegt und unter einem Dunkelsturz mit nur einem seitlichen Fenster zum Keimen gebracht wird, entwickelt sich der Spross automatisch in Richtung der Lichtquelle. Dieses Phänomen, bei dem eine Pflanze ihr Wachstum an das einfallende Licht anpasst, wird als Phototropismus bezeichnet. Doch nicht nur Licht allein kann einen bewegungsauslösenden Reiz für Pflanzen darstellen. Auch die Schwerkraft lässt Pflanzen erstaunliche Bewegungen ausführen. So wachsen Pflanzensprosse beispielsweise nie einfach vertikal aus der Erde, sondern stets negativ gravitrop (entgegen der Schwerkraft) in Richtung des Himmels. Dies geschieht selbst dann, wenn die Pflanze an einem steilen Berghang wächst. Die Wurzeln vieler Pflanzen entwickeln sich entgegengesetzt der Sprosse positiv gravitrop (mit der Schwerkraft). Selbst schwache taktile Reize aus der Umwelt dienen Pflanzen als Orientierungsgrundlage. Ranken, Winden und Kletterpflanzen beispielsweise erfassen die sensiblen Kontaktreize, die von Berührungen ausgehen. Diese Eigenschaft ermöglicht es ihnen, geeignete Stützen zu finden, um an ihnen emporranken zu können. Sogar elektrische Reize können tropistische Bewegungen mancher Pflanzen auslösen (vgl. Kadereit, 454ff.). Neben diesen Arten von Tropismen wurden bei Pflanzen zahlreiche weitere passive und aktive Bewegungsformen entdeckt. 

In der Naturforschung wurde es lange vermieden, Pflanzen die Fähigkeit zuzusprechen, Bewegungen auszuführen. Es war einfach, die scheinbar fehlende Agilität der Pflanzen zur Markierung der Grenze zum Tierreich heranzuziehen. Dass die Bewegungsunfähigkeit ein für die Unterscheidung von Tier und Pflanze ungeeignetes Kriterium darstellt, wurde in den 1890er Jahren durch den deutschen Botaniker und Pflanzenphysiologen Wilhelm Friedrich Philipp Pfeffer bewiesen. Ihm gelang es unter anderem, die langsamen Bewegungen einer aufblühenden Tulpe und der sich schließenden Blätter einer Mimose im Zeitraffer darzustellen (vgl. Mancuso, 84f.). 

Pflanzliche Bewegungen wurden literarisch vielfach durch Analogien zu Tanzbewegungen verarbeitet. Bereits 1595 verglich der englische Lyriker Sir John Davies in seinem Orchestra or a Poem of Dancing Blumenbewegungen im Wind mit Tanz. 1807 widmet sich auch William Woodsworth in seinem Gedicht I wandered lonely as I could, in dem er vom Wind bewegte Narzissen als tanzend bezeichnet, dieser Thematik. Der Verweis auf eigenständige florale Bewegungen, die nicht durch den Einfluss von Wind ausgelöst werden, findet sich in Hans Christian Andersens Märchen Die Blumen der kleinen Ida von 1835, in dem die Blumen nach einer vermeintlich durchtanzten Nacht ihre Köpfe hängen lassen (vgl. Schwan, 141ff.). Auch choreographisch sind Nachahmung von Pflanzenbewegungen weit verbreitet. Was zunächst nur als schmückendes Beiwerk an Frisur und Kostüm diente, entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einem zentralen Bestandteil des Balletts, wie Tschaikowskys Blumenwalzer und Anna Pawlowas Solo Californian Poppy, in dem ein Tag im Leben einer Mohnblüte tänzerisch dargestellt wird, zeigen (vgl. Schwan, 143ff.). 

Literaturangaben:
Mancuso, Stefano: Pflanzenrevolution. Übers. v. Christine Ammann. München 2018 (ital. 2017).
Kadereit, Joachim W./ Körner, Christian/ Kost, Benedikt, Sonnewald, Uwe (Hg.): Strasburger. Lehrbuch der Pflanzenwissenschaften [1894]. 37. Aufl. Heidelberg: 2014.
Schwan, Alexander: Tanzende Blumen. Florale Ephemeralität und choreographische Transaktualität. In: Transaktualität. Ästhetische Dauerhaftigkeit und Flüchtigkeit. Hg. v. Stefanie Heine u. Sandro Zanetti. Paderborn: Wilhelm Fink, 2017, 141-152.